- Neue Heilmittel-Richtlinie ermöglicht langfristige Verordnung einer Physiotherapie.
- Physiotherapie sollte bereits im frühen Kindesalter beginnen.
- Physiotherapie beugt Blutungen vor und verbessert den Gelenkstatus.
GUT ZU WISSEN
Herr Dr. Auerswald, seit Januar 2021 wurde die Heilmittel-Richtlinie der GKV aktualisiert, der Heilmittelkatalog ergänzt. Was bedeutet das für die Therapie von Menschen mit Hämophilie?
Die Novellierung der Heilmittel-Richtlinie ermöglicht es Ärzten, Hämophilie-Patienten nun auch langfristig Physiotherapie zu verordnen, und zwar für einen Zeitraum von bis zu einem Jahr. Für die Patienten hat das den Vorteil, dass sie von einer niederschwelligen, dauerhaften, regelmäßig stattfindenden Physiotherapie profitieren. Und es ist eine Erleichterung, sich nicht alle paar Wochen auf den Weg ins Gerinnungszentrum machen zu müssen, um eine neue Verordnung zu erhalten. Auch bei den Ärzten werden dadurch hoffentlich Hemmnisse abgebaut, Menschen mit Hämophilie Physiotherapie zu verschreiben. Denn ich vermute, dass viele Ärzte nicht so umfangreich Physiotherapie verordnen, wie sie es eigentlich gerne wollten. Für sie spielt das auch wirtschaftlich eine Rolle, da das Budget für die Verordnung von Heilmitteln insbesondere bei Kinderärzten schnell erschöpft ist.
Dr. Günter Auerswald
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Hämostaseologie
Warum ist es wichtig, möglichst früh mit der Physiotherapie zu starten?
Bei etwa der Hälfte der Menschen mit Hämophilie tritt die Erkrankung als Neumutation auf, es besteht also keine erbliche Vorbelastung durch die Eltern. Das bedeutet auch, da Kinder nicht systematisch zum Beispiel nach der Geburt auf eine Hämophilie getestet werden, dass sich die Krankheit in der Regel erst innerhalb des ersten Lebensjahres durch ungewöhnlich viele blaue Flecken zeigt, die sich die Kinder mit beginnender Mobilität etwa beim Krabbeln und Hochziehen – und wieder zurück auf den Po-Fallen – zuziehen. Diese für gesunde Kinder völlig ungefährlichen Bewegungsabläufe können für Babys und Kleinkinder mit Hämophilie gefährlich werden. Denn wenn sie aus eigentlich unproblematischen Höhen hinfallen, kann es bei ihnen zu ausgeprägten inneren Blutungen kommen. Fallen sie auf den Kopf, besteht die Gefahr einer lebensgefährlichen Hirnblutung. Im Rahmen der Physiotherapie lernen daher auch ganz kleine Kinder, wie sie Bewegungsabläufe sicher und kontrolliert ausführen können, sodass dies nicht passiert.
Welche weiteren Vorteile bringt eine physiotherapeutische Behandlung Menschen mit Hämophilie?
Sehr viele. Das Hauptproblem bei Menschen mit Hämophilie ist, dass es immer wieder zu Einblutungen in die Muskeln und Gelenke kommt – selbst wenn die Patienten medikamentös behandelt werden. Dies schädigt die betroffenen Bereiche und ist zudem sehr schmerzhaft. Diese Gelenkblutungen treten schon sehr früh auf. Wir sehen, dass Kinder bereits im zweiten Lebensjahr durch Blutungen Schmerzen in den Gelenken spüren. Das führt automatisch dazu, dass sie das Gelenk und die umgebende Muskulatur schonen. Diese Schonhaltung, zum Beispiel des betroffenen Knies, speichert das Gehirn ab und etabliert neue Bewegungsmuster – die wiederum zu einer Asymmetrie mit andauernder Fehlbelastung der anderen Seite, meist beim Knie oder Sprunggelenk führen. Als Folge dieser Fehlbelastung werden diese Gelenke bald ebenfalls Probleme bereiten. Daher ist es wichtig, sich bei Hämophilie-Patienten immer beidseitig die Gelenke anzuschauen. Physiotherapeuten können Fehlbelastungen erkennen und den Patienten dabei helfen, günstigere Bewegungsmuster einzuüben. So lässt sich das Körperschema langfristig verbessern. Die Physiotherapie fördert zudem den Muskelaufbau und die Fähigkeit, das Gleichgewicht zu halten. Das ist wichtig, um Stürze zu vermeiden, die zu Blutungen führen können. Nach akuten Blutungen lässt eine Lymphdrainage Schwellungen in den betroffenen Regionen leichter wieder abklingen.
Profitieren Patienten nur präventiv von der Physiotherapie oder kann sie auch bereits bestehende Schäden ausgleichen?
Mittlerweile gehört die Prophylaxe-Therapie mit Medikamenten bei schwerer und mittelschwerer Hämophilie zum Standard, um Blutungen von vornhinein zu vermeiden. Wir wissen aber, dass viele Hämophilie- Patienten, die keine Prophylaxe-Therapie durchgeführt haben oder durchführen konnten, bereits in der Pubertät unter Arthrosen und Gelenkversteifungen leiden. Eine Physiotherapie kann bei diesen Patienten die Beweglichkeit der Gelenke verbessern, sie stabilisieren und gelenkschonende Bewegungsabläufe einüben. Dadurch wird es zum Beispiel wieder möglich, beschwerdefrei Treppen zu steigen, im gewissen Maße Sport zu treiben oder der Berufstätigkeit nachzugehen. Mehr Beweglichkeit bedeutet in der Regel auch weniger Schmerzen – und einen großen Gewinn an Lebensqualität.
Haben Sie ein Beispiel, an dem Sie das verdeutlichen können?
Vor ein paar Jahren kamen zwei Jungen, damals sieben und zehn Jahre alt, in die Praxis. Die Kinder litten unter schwerer Hämophilie A, hatten bisher jedoch nur selten Faktorpräparate erhalten, wodurch sie bereits in jungen Jahren viele zum Teil ausgeprägte Gelenkblutungen erlitten hatten. Der ältere Junge kam mit gebeugten Knien und schmerzverzerrtem Gesicht in die Sprechstunde. Sein jüngerer Bruder klagte ebenfalls über Knieprobleme sowie über starke Schmerzen im rechten Ellenbogen. Aufgrund ausgeprägter Sprach- und psychosozialer Probleme kamen beide Kinder in eine Schule für körperbehinderte Kinder, in der sie neben einer Faktor-Substitutionstherapie auch regelmäßig mehrfach in der Woche Physiotherapie erhielten. Mit dem Ergebnis, dass der Große nach ca. fünf Monaten wieder schmerzfrei weitgehend gerade laufen konnte und sogar fragte, ob er jetzt Fußball spielen könne. Der Kleine, der zuvor seinen Ellenbogen nicht richtig drehen konnte, schaffte es nun zu essen, sich die Haare zu kämmen und problemlos am Nacken zu kratzen. Das zeigt, das Physiotherapie eine große Hilfestellung bieten kann.
Was gilt es bei der Physiotherapie von Hämophilie-Patienten zu beachten?
Die Physiotherapie ist hervorragend dazu geeignet, herauszufinden, was ein Patient kann und machen möchte – und dies gezielt zu fördern. Daher ist es wichtig, dass sich Physiotherapeuten immer individuell auf ihre Patienten einstellen. Im besten Fall arbeiten sie eng mit den behandelnden Hämostaseologen zusammen. Für die Physiotherapie ist es außerdem enorm wichtig, dass ebenso wie vor sportlichen Aktivitäten die Hämophilie-Patienten frisch substituiert sind, sprich: sie eine ausreichend hohe Konzentration an Gerinnungsfaktor im Blut haben. Das geeignete Rüstzeug, um die Patienten effizient und langfristig mit gutem Ergebnis für die Gelenkgesundheit zu behandeln, erhalten Physiotherapeuten in der HaemAcademy
Erschienen in themenbote MEDIZIN Januar 2022.
Mit freundlicher Genehmigung von Themenbote GmbH.